1968 is dead or dying

1968 Buddhastatue aus dem Baumarkt

So isses …

In einem Straßencafé am Kurfürstenplatz sitzt ein Alt-68er-Künstlertyp in weißen Leinenhosen. Sein wallendes Hemd verhüllt schlaffe Haut und Altersleberflecke kaum. Das graue Brusthaar flimmert wie trockenes Stroh im Wind. Es zittert die faltige Hand, als sie eine Zigarette an den Mund führt. Er fühlt sich wie ein einsamer Wolf und sieht aus wie eine halbtote Taube. Er hat den ganzen Unfug eingeführt, der uns heute vom Leben abhält: Coolness, Treibhauseffekt, Überforderung. Wenn man ihn, diese Iggy-Pop-Karikatur, vergleicht mit dem Standard-Spießer der 60er-Jahre, weiß man plötzlich, woher der Spruch kommt: „Dasselbe in grün.“ Daheim, im Hausflur mit dem Parkett und den bunten Batiktüchern an der Wand, steht eine Buddha-Statue aus dem Baumarkt. Sie ersetzt das Kruzifix wie Tofu Fleisch, also nicht wirklich. Das Kreuz war Ausdruck eines Glaubens, der Buddha drückt aus, dass sich sein Besitzer auf keinen Glauben mehr festlegen mag. Buddha ist in diesem Kontext nur noch der Gartenzwerg des grünen Bürgertums; eine ästhetische Geschmacksverirrung mit Schmuckintention.

Die halbtote Taube hustet ohne Hand vorm Mund. Auf dem Nummernschild des Autos seines Sohnes prangt eine 666. Das liegt daran, dass der Bub ein Rebell ist. Er ist das Tier aus der Offenbarung des Johannes; ein Schlimmer, der Lederstiefel trägt und sich ein koreanisches Schriftzeichen auf den Oberarm tätowieren ließ, von dem er immer noch glaubt, es sei chinesisch und bedeute „Drache“. Er ist derart satanisch, dass er trotz seines nicht mehr zarten Alters jährlich zum „Rock im Park“ fährt und es dort so richtig krachen lässt. Der Antichrist lehrt Deutsch und Sport am Gymnasium. Sein Papa sitzt am Kurfürstenplatz und bläst Rauch in einen letzten Cappuccino. Der Schaum quillt über den Tassenrand wie die Lebenslüge des Trinkers über sein nahes Grab.

1968 is dead or dying. In diesem Falle letzteres. Jetzt wird der Leser wohl vermuten, dass der Autor dieses Textes das begrüßt. Das tut er nicht. Zwar ist deutlich zu erkennen, dass hier einiges schief gelaufen ist mit einem konkreten Leben und seiner Vision. Jedoch: Er hat es wenigstens versucht. Ein Satz, der die Alt-68-er allgemein recht treffend zusammenfasst: „Sie haben es wenigstens versucht.“ Dass dadurch alles noch schlimmer wurde, fällt in die Kategorie „Kunstfehler“. Ein Kunstfehler ist keine Entschuldigung für einen verreckten Patienten, aber moralisch dennoch besser, als wenn Doktorchen statt Operieren lieber Golfen gegangen wäre. Die Konservativen sind die Golfer und die Alt-68er die Kunstfehlerproduzenten. Die Sympathie ist eindeutig verteilt.

Schlimm dagegen sind die Neu-68er: Sie, diese rotznäsigen linksfaschistischen Wohlstandsbälger protestieren gegen ein Establishment, das schon ewig und drei Tage ausgestorben ist. Sie wettern gegen Kirche, Patriarchat und Diskriminierung – die da oben aber riechen längst nach Patchouli und freuen sich über solches Gewetter. Die Herrschenden reißen Familien auseinander, Mobilität bis aufs Blut und brutalstmögliche Gleichheit für jeden fordernd. Sie lassen die Alten im Elend sitzen und die Jungen in Kurzzeitverträgen. Aber die Neu-68er opponieren nicht, im Gegenteil: Gemeinsam mit den Mächtigen kämpfen sie auch noch für ihr Unglück. Schnell das Kind in die Krippe abgeschoben, um weiter den Gewinn der Aktionäre und den eigenen Burnout zu befeuern. Yeah, baby, the times they are a-changing. For real. Man kann sich auf ein Altenheim voller Arschgeweihe freuen. Wenn es Altenheime bis dahin noch geben wird. Gut, dass die Taube vom Kurfürstenplatz das nicht mehr erleben wird. Es wäre nicht in ihrem Sinne.