Würdiges Katern der Allgäuer Jugend nach dem Besuch von Landdiscos.

Eines weiß ich aus meiner Allgäuer Jugend sicher:

Diskotheken und Clubs sind die Mitochondrien des Hinterlandes, die Kraftwerke, aus denen die Jugend im Allgäu ihre Energie zieht. Pfui, war das ein schlimmer Satz, weisch, des goht it, so darf man nicht sprechen zwischen Isny und Immenstadt. Red´ gefälligst Dialekt, ja der Dialekt will kultiviert sein von der Allgäuer Jugend. Zwischen Doc Martens und Dreadlocks, Totenkopftattoo und Impfnarbe gehört die Sprache hier zur Körperpflege. Sie stimmt aber natürlich auch auf hochdeutsch, die Sache mit den Landdiscos im Allgäu und sie verlangt würdiges Katern. Was das ist? Lest, voran, lest!

Landdiscos im Allgäu, Freude der Allgäuer Jugend!

Landdiscos sind a) schwer zu finden b) wunderbar oder c) alles zusammen.

Jene rauchigen Kaschemmen, die sich im Nirgendwo an die Hänge der grünen und grauen Täler schmiegen. Jene Walddiskotheken mit ihrem ewig gleichen „Whole lotta love“, „I put a spell on you“ und „Narcotic“. Ihr Licht ist im Winter die einzige Verheißung von Wärme auf 50 Quadratkilometern, darum sind sie die einzigen Häuser des Allgäus, die man auch vom Weltall aus sehen kann. Zu ihnen führen ungeräumte Straßen, deren Verheißung Vereisung heißt und über die dennoch eine Karawane unzähliger rostiger Kleinwagen zum heißen Brennpunkt des Lebens und der Liebe, zu Schuppen namens „Rasta“ oder „Sonneck“ zieht. Hier, wo sich die Elite des Rock´n Roll versammelt, kippen die coolsten Säue der Nation ihre Woiza.

Neulich hat jemand die coolen Säue „baurig“ genannt. Ich glaube, der Typ hieß „Neid“. Denn wovon die Großstadtrocker, Raver und Punks träumen – die große Freiheit, Sex, Drugs and Rock´n Roll – damit wachsen die Bauernsöhne und -töchter ganz selbstverständlich auf. Die Entfernungen zwingen sie dazu, sich früh zu motorisieren. Die freie Natur und manchmal sogar Papas Hof bergen vielfältige Möglichkeiten, bewusstseinsverändernde Substanzen zu sammeln oder anzubauen. Und der DJ im „Sonneck“ ist vielleicht nicht immer ganz auf der Höhe der Zeit, hat dafür aber einen ernstzunehmenden Musikgeschmack und präsentiert sein solides Set Woche für Woche für Woche.

Allgäuer Jugend: Die wahre Jugend!

Während die Großstadtjugend in der Masse untergeht, den neuesten Trends hinterherhechelt und dabei doch immer nur die Verkleidung wechselt, hat sich das Allgäuer Jungvolk in seinem musikgetriebenen Lebensstil gemütlich eingerichtet, sind Festivalbändchen um die Handgelenke ebenso Lebensart wie der Abwrackprämie von der Schippe gefahrene und schludrig neulackierte Autos. Wer sagt, die Landjugend sei ein Freund des Tunings, muss die öden Motorfetischisten der drögen Allgäuer Kleinstädte meinen. Bauernkinder tunen nicht. Sie schrauben, basteln und hinterher sieht alles aus wie ein Traktor. Wer meint, seine Jugend in Käffern wie Kempten, Immenstadt oder Wangen verbummeln zu müssen, wird sich einst im Paradiese fragen, warum er immer nur in öden Pubs zu Schlagern dösig gesoffen oder in kalten Hallen zu Techno müde gezuckt hat, anstatt nur ein paar Kilometer weiter zwischen Hügeln und Wäldern die brüllende Hitze der Nacht und wie einem Hunter-S.-Thompson-Roman entsprungene Irre zu erleben.

Die Kehrseite des wilden Lebens ist eine vorprogrammierte morgendliche Katerstimmung, die in der von den Gletschern der Eiszeit gezeichneten Landschaft des Voralpenlandes deutlich anders ausfällt als in der Großstadt. Wer im Hinterland seinen „Kalten Truthahn“ schieben muss, sollte sich vorher versichern, alles Nötige im Haus zu haben. Denn der Weg zum nächsten Geschäft ist weit und die Ladenöffnungszeiten huldigen der Adenauerzeit. Mancherorts haben die Krämer nicht nur Samstags und Sonntags, sondern sogar Mittwochnachmittag geschlossen. Eine Tatsache, die manchem Spätkaufverwöhnten Großstädter schon das Leben oder zumindest die gute Laune gekostet hat. Dösige Sonntagsstimmung weht die meiste Zeit durchs Allgäu und so sehr sie einem beim „runterkommen“ hilft, genauso stört sie beim wieder aufpäppeln.

Würdiges Katern, morgendliche Katerstimmung, Allgäu

Würdiges Katern beinhaltet für mich den Besuch des sonntäglichen Gottesdienstes.

Wo soll man nur einen bunten Film herbekommen am Sonntagmorgen, wenn das Internet noch analog und der DVD-Verleih geschlossen ist? Die eigene Sammlung beinhaltet nur schonungslos harte Thriller und Kunstfilme, doch stünde einem der Sinn nach Pipi Langstrumpf oder ähnlich infantilen Streifen, die man sonst nicht im Regal stehen haben möchte. Denn jetzt ist Embryostellungszeit, man schrumpft in die Kindheit zurück und ist doch in der Knochensägenrealität gefangen. Alles ist wie in den 70ern, ein Solidargefühl kommt auf. Man liegt im Geiste mit Jim Morrison in der Badewanne eines Pariser Hotelzimmers und keiner zieht den Abflussstöpsel. Hier bist du allein mit deinem Kater, verlorener als es in jeder Stadt der Fall wäre. Hier gibt es keine Fußgängerzonen, keine Cafés in die du dich durch eine schwarze Sonnenbrille abgeschirmt hocken und deine Wunden lecken könntest. Es gibt nur die kalt verputzte Wand, das Fenster, den Regen und Wald, Wald, Wald.

Im vor sich hin hämmernden Schädel verflüchtigen sich die Gewissheiten, kriechen Verschwörungstheorien ins Land der Tatsachen. Kennedy, die Mondlandung, Bielefeld. Alles scheint möglich in dieser fiesen, grauen Welt und dann auch noch die verdammte eigene Phantasie. Wieso eigentlich dauert ein Fußballspiel genau 90 Minuten? Wieso gibt es eine Pause nach 45? 1945 und 1990, die wichtigsten Jahre des 20. Jahrhunderts, Ende des Zweiten Weltkriegs und deutsche Wiedervereinigung, das kann doch kein Zufall sein! War der Erfinder der Kickerei vielleicht ein Prophet? Diese Kabbala macht einen noch wahnsinnig. Besser sich schmerzend aus dem Bett gequält und die Räude abgeduscht. Der Nachbarjunge spielt hinter dem Panoramafenster ein Metzelspiel auf seiner Konsole, sein Vater reißt in Gore-Tex gehüllt mit einem Spaten den Garten auf. Als die Kirchenglocken läuten, stößt du sauer auf. Dann gehst du hin zur Kirche, um Dein Inneres zu säubern. Nach der Messe kommt die Sonne raus und alles strebt ins Wirtshaus. Du strebst mit, setzt dich an den Katzentisch nahe der Küchentür und bestellst ein deftiges Fleischgericht mit Konterwoiza. Das mag der Kalte Truthahn nicht, das hasst er, das bringt die Wärme und das Leben zurück. Am späten Nachmittag verlässt du das Wirtshaus mit angenehm schweren Gliedern, plumpst ins Bett und schläfst bis zum nächsten Morgen. „Würdiges Katern“ nennt das die Allgäuer Jugend. Ja, wer so katert, katert wohl.

Der Jimmie, der Charlie und der Jackie

Die 68er und ihre Spitznamen - Allgäu-Edition.

Oh baby, where did we lose our way?

Der Jimmie hat sich Jimmie genannt, weil´s den Charlie schon gegeben hat. Eigentlich hätte der Jimmie lieber Charlie geheißen, aber der Charlie war früher auf die Idee gekommen und zwei Charlies braucht Wimfatzhofen nicht, hat sich der Jimmie gedacht und der Charlie sowieso. Dann hat der Jackie gesagt, Jimmie ist doch eh viel cooler wie Charlie wegen dem Hendrix. Der Jackie war nämlich der Trendscout von Wimfatzhofen. Der Jimmie hat den Hendrix nicht gekannt und als der Jimmie den Hendrix gekannt hat, hat der Jimmie den Hendrix nicht gemocht. Weil der Jimmie spielt Tuba und die tiefen Töne liegen dem Jimmie mehr als das quietschende Gitarrengefrickel vom Hendrix. Aber der Jimmie hat jetzt halt Jimmie geheißen und darum hat der Jimmie sich den Hendrix schönhören müssen. Also hat der Jimmie ihn immer gehört, im Stall, auf dem Traktor, unterm Moped. Innerlich hat der Jimmie dabei immer Pom-Pom-Pom-Pom gemacht, Viervierteltakt, a gscheite Musi halt.

Aber äußerlich war er ganz der Hendrix, der Jimmie, so dass der Charlie sich gefragt hat, wer eigentlich der Charlie war, nach dem der Charlie sich benannt hat. Weil, wenn der Jimmie so ein Hendrix werden kann, muss der Charlie doch auch was gewesen sein. Dem Jackie ist sofort der Charlie Brown eingefallen und das fanden alle sehr passend, aber dem Charlie hat es nicht getaugt. Die Franzi hat ihm schon mehr getaugt. Die hat in der Dorfmusi die Jugend gemacht und darum den Charlie Parker gekannt. Nicht persönlich natürlich, aber auf Platte. Dem Charlie gings mit dem Parker wie dem Jimmy mit dem Hendrix. Aber natürlich hatte auch der Charlie keine Wahl. Wenigstens war auch der Parker ein Neger und darum hat der Vater vom Charlie den Charlie jetzt genauso einen Seckel genannt wie der Vater vom Jimmie den Jimmie einen Hirschen. Was den Jackie aber am Vater vom Charlie beeindruckt hat, war, dass der Vater vom Charlie den Charlie immer Charlie gerufen hat, während der Vater vom Jimmie den Jimmie immer nur „Schorsch“ und der Vater vom Jackie den Jackie bloß „Heinzi“. Sture alte Bauernköpfe waren das.

Damit der Charlie wegen seines coolen Däds nicht übermütig wird, haben der Jimmy und der Jackie den Charlie hin und wieder „Jakob“ genannt. Aber nur, wenn der Charlie einen Dämpfer brauchte, was häufig vorkam, weil der Charlie ja die Franzi hatte und der Jimmie und der Jackie nicht, was eine Hundgemeinheit war vom Charlie, den die Franzi eigentlich gar nicht gemocht hat. Die Franzi war nämlich nur wegen dem Cabrio mit dem Charlie zusammen, das eigentlich dem Jackie gehört hatte, bevor der Jackie damit besoffen in die Hofeinfahrt gerauscht ist und dem Jackie sein Vater es strafverkauft hat und zwar ausgerechnet an den Däd vom Charlie, so ein Hundspech, und das grad, als der Jackie die Franzi zum Busseln in die Berge mitnehmen hat wollen, obwohl gar nicht ausgemacht war, dass die Franzi mitgekommen wäre, weil der Jimmie ihr an dem Wochenende seine neue Tuba hat zeigen wollen, was dann aber Makulatur war, als der depperte Charlie mit dem Cabrio vom Jackie auf den Hof von der Franzi gefahren ist und zwar nach allen Regeln der Straßenverkehrsordnung, dass der Vater von der Franzi sofort in Schwiegersohnlaune war und der Franzi unbegrenzten Ausgang mit dem Charlie gewährt hat, was dann ausschlaggebend zu der Entscheidung von der Franzi beigetragen hat, mit dem Charlie zu Busseln und nicht mit dem Jimmie oder dem Jackie.

Die saublöde Entscheidung von der Franzi hat leider lange gehalten, weil der Charlie war heimatverbundener als der Jimmie und der Jackie zusammen und das hatte die Franzi mit dem Charlie gemeinsam, nicht mit dem Jimmie und dem Jackie. Weswegen die Franzi in dem Haus festgeklebt ist, das der Charlie in Wimfatzhofen gebaut hat, als der Jimmie und der Jackie zum Studieren sind.

Der Jimmie hat schnell angefangen, sich wieder Schorsch zu nennen und nicht nur Schorsch, sondern Georg, weil der Jimmie wollte Jurist werden und da hätte er keine Freude gehabt, wenn er sich Jimmie genannt hätte, obwohl er Schorsch geheißen hat und Schorsch konnte der Jimmie auch nicht mehr heißen weil Schorsch war so ländlich wie Jimmie amerikanisch, also hieß der Jimmie beim Studieren nicht mehr Jimmie oder Schorsch, sondern Georg. Das hat seinen Vater enorm verwirrt, weil der hat gar nicht gewusst, dass der Schorsch eigentlich Georg heißt, der hat gemeint der Schorsch nennt sich Georg genauso wie er sich Jimmie genannt hat, also um den Vater zu ärgern. Darum hat der Vater dem Schorsch das Taschengeld gestrichen, bis der aufhört, sich Georg zu nennen. Das hätte den Georg fast wieder zum Jimmie gemacht, weil wenn der Georg sich die Wohnung in München nicht mehr hätte leisten können, wär´s aus gewesen mit der Juristerei und bevor der Georg dann wieder zum Schorsch wird, hat der Georg sich gedacht, kann er sich gleich wieder Jimmie nennen. Die Mutter vom Schorsch, die den Georg inzwischen gerne Jimmie genannt hat, hat den Vater dann aber mithilfe eines amtlichen Dokuments von der Richtigkeit der Georgschen Behauptung überzeugt. Also hat der Georg die Juristerei gelernt, den Jimmie sein gelassen und der Papa durfte ihn weiter Schorsch nennen.

Beim Jackie war das Ganze komplizierter.

Der Vater vom Jackie wusste zwar, dass der Heinzi eigentlich Heinz geheißen hat, aber warum der Heinzi sich nicht Heinz, sondern weiterhin Jackie genannt hat, das hat der Vater bis zum Tod nicht verstanden. Zum Glück hat der Vater vom Jackie nicht mehr mitgekriegt, dass der Jackie sich in der Großstadt nicht mehr der Jackie sondern die Jackie genannt hat, weil das hätte der Vater noch viel weniger verstanden und dann wäre er unglücklich ins Grab gefahren. So aber ist der Vater von der Jackie als Vater vom Heinzi mit einem Lächeln unter die Räder vom Bulldog gepurzelt. Die Jackie hat das erst Wochen später erfahren, weil sie auf Briefe an Heinzi nicht mehr reagiert hat in ihrer Subkultur an der Nordsee. Es war der Charlie, der den Jackie schließlich ans Telefon bekommen hat, aber der Charlie hat sofort Streit mit der Jackie bekommen, die nichts von dem Jackie hören wollte, was den Charlie dazu bewegt hat, den Georg einzuschalten, der dann als Jimmie bei der Jackie angerufen hat und ihr von seinem gerade virulenten Schorsch-Problem erzählte. Das hat dann nebenbei gesagt bei der Jackie Muttergefühle aktiviert, weswegen die Jackie dann als der Jackie bei der Mutter vom Jimmie angerufen und ein gutes Wort für den Georg eingelegt hat. Aber hauptsächlich hat es der Jimmie geschafft, dem Jackie vom Tod seines Vaters zu berichten, was die Jackie dazu bewegt hat, sich als Heinzi zu verkleiden und mit dem Jimmie und dem Charlie das Grab vom Vater vom Jackie in Wimfatzhofen zu besuchen.

Zu diesem Anlass sind der Jimmie und der Jackie dann zum ersten Mal seit über vier Jahren zurück nach Wimfatzhofen gekommen. Der Charlie und die Franzi haben den Jimmie und den Jackie mit dem Auto vom Bahnhof abgeholt und sich gewundert, wie schorschig der Jimmie und wie heinzig der Jackie ausgesehen hat. Der Jimmie und der Jackie dagegen haben´s nicht fassen können, dass der Charlie noch genau wie der Charlie, aber die Franzi gar nicht mehr wie die Franzi ausgesehen hat. Der Charlie war ja immer schon ein fetter Hundling gewesen, aber die Franzi war erst vor Kurzem ein Opfer ihrer Kochkunst geworden, was den Georg auf der Stelle entliebt und die Jackie endgültig ihrer neuen sexuellen Identität versichert hat. Dass die Franzi so einen positiv-bestärkenden Eindruck auf den Jackie und den Jimmie gemacht hat, hat der Charlie nicht gemerkt und die Franzi selber auch nicht. Der Charlie hat nur misstrauisch beäugt, wie der Jackie und der Jimmie der Franzi auf den Hintern gestarrt haben, nicht ahnend, dass der Jackie und der Jimmie die Franzi nicht bewundert, sondern die Jackie und der Georg die Franzi bemitleidet haben, unter anderem wegen dem Charlie, der immer noch von allen Charlie genannt wurde, nur die Jackie und der Georg haben ihn die ganze Fahrt zum Friedhof über Jakob gerufen, was die Franzi, die den Charlie natürlich auch Charlie genannt hat, sehr witzig fand, ganz im Gegensatz zum Charlie.

Am Grab vom Vater vom Jackie sind der Jimmie, der Charlie und der Jackie dann mit der Franzi gestanden und haben sich Fragen gestellt. Der Jimmie hat sich gefragt, wieso er sich nur wegen der saublöden Coolness und dem Hendrix, den er gehasst hat, jemals Jimmie genannt hat, wo doch Georg viel schöner war oder meinetwegen Schorsch, wenn´s seinem alten Herrn so viel bedeutet. Der Charlie hat sich gefragt, was es wohl zum Mittag gibt. Die Jackie hat sich gefragt, wie viel wohl so eine Umoperation kosten würde. Die Franzi hat sich gefragt, wie der Jackie wohl in diese Hosen gekommen ist. Und alle haben sie sich gefragt, wieso auf dem Grabstein vom Vater vom Jackie, der Xaver geheißen hat, Elvis Huber gestanden ist.

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