Postmoderne Politik heißt: Die Öffentlichkeit anziehen.

„Putting on the public“, also „die Öffentlichkeit anziehen“ ist ein Ausdruck, den der kanadische Medienwissenschaftler Marshall McLuhan oft verwendete. Der Begriff erklärt, warum Angela Merkel lange Zeit so erfolgreich war und wieso die AfD zurzeit die etablierte Politiklandschaft aufmischen kann.

Die Öffentlichkeit anziehen - Putting on the Public

Die „Merkel-Raute“ wurde oft interpretiert. Offen war sie für alle Deutungen. Das ist wichtig für das rollenzentrierte Politikerkonzept der Postmoderne.

McLuhan ging es um mediale Darstellung von Politik, nicht um ihre Organisation und Umsetzung. Um unsere Politik unter medialen Gesichtspunkten zu verstehen, muss man seiner Ansicht nach mit dem Mittelalter beginnen:

Die prägenden politischen Begriffe des Mittelalters waren „Stand“ und „Rolle“. Nicht das Individuum als vom Kollektiv losgelöste und kritisch denkende Einheit war maßgeblich. Wichtig war nur jenes Individuum, das seine Rolle im Kollektiv reibungslos erfüllte. Hatte man z.B. Schmied gelernt, war das nicht nur ein Mittel zum Lebensunterhalt und ein nützliches Handwerk. Es war vielmehr eine Rolle, die man von nun an sein ganzes Leben lang auszufüllen hatte. Der Schmied blieb Schmied, auch wenn er eines Tages aufgrund von Bandscheibenschäden vielleicht Obstverkäufer wurde. Er hatte eine soziale Rolle erworben, die zudem religiös untermauert war durch das Konzept der göttlichen „Berufung“ des Menschen. Das Leben im Mittelalter kannte kein „Privatleben“ im heutigen Sinn. Alles war öffentlich, darum prägte die Rolle und die mit ihr verbundene „Maske“ den Alltag. Die größte Rolle war dabei die des Königs. Er wurde nicht als „Macher“ gesehen, sondern repräsentierte das, was die Menschen sich von sich selbst wünschten: Perfektion, Tugendhaftigkeit und Nähe zu Gott. Der mittelalterliche König musste also „die Öffentlichkeit anziehen“.

Doch damit nicht genug, denn zwischen dem Mittelalter und unserer Postmoderne liegt noch die moderne Politikwissenschaft und die beginnt bei Machiavelli. Dieser Name hat heute einen unguten Beigeschmack und steht für einen Politikstil, der über Leichen geht. Das allerdings ist vor allem ein Missverständnis all jener, die Machiavelli nie gelesen haben. McLuhan hat ihn gelesen und für ihn ist Machiavelli eines der ersten Kinder des Buchdruck-Zeitalters: Ein Individualist, dessen Einfluss die europäische Politik für Jahrhunderte prägte. Machiavelli war Autodidakt und lernte die antiken Klassiker ausschließlich durch Bücher kennen. Dadurch erlangte er eine hohe Abstraktionsfähigkeit, die es ihm erlaubte, menschliches Handeln ohne moralische Bewertungen zu analysieren. Im Lauf seines Lebens stellte er sein empirisch erlangtes Erfahrungswissen über die klassischen humanistischen Erkenntnissysteme des Mittelalters und folgte damit als erster in Grundzügen dem modernen Wissenschaftsideal. Wie scharf er dabei analysiert zeigt dieses Zitat aus seinem Hauptwerk „Il principe“ (Der Fürst):

„Die Menschen urteilen im Allgemeinen nach dem Augenschein, nicht mit den Händen. Sehen nämlich kann jeder, verstehen können wenige. Jeder sieht, wie du dich gibst, wenige wissen, wie du bist.“

Diese Analyse ist nicht mehr mittelalterlich. Hier gibt es einen privaten und öffentlichen Raum, die „Rolle“ (wie du dich gibst) wird klar vom „Denken“ (wie du bist) getrennt. Das Zeitalter der Individualisten hat begonnen. Für Machiavelli ist der Mensch ein Uhrwerk. Wer die Triebkräfte des Menschen erkannt hat, kann ihn analysieren, weiß „wie er tickt“. Der Politiker nach Machiavelli ist ein Spezialist und Technokrat – ein „Fachmann“ für den Bereich der Politik. Dieser „Fachmann“ wurde über die Jahrhunderte immer spezialisierter und endete schließlich beim „charismatischen Herrscher“ Max Webers, der alle Fäden in der Hand hat und mit seiner politischen Agenda ganze Völker mitreißt.

Dieses moderne Bild des Politikers ist jedoch mindestens so überholt wie das des Mittelalters. Denn wir leben nicht mehr in der noch maßgeblich vom Buchdruck bestimmten Moderne. Wir leben in der Postmoderne und dieses Zeitalter hat Marshall McLuhan sehr treffend als „Global Village“ beschrieben (mehr dazu hier). Was den Politiker in dieser Postmoderne auszeichnet ist das, was McLuhan „die Öffentlichkeit anziehen“ nennt.

Eine Mischung aus Mittelalter und Moderne …

Der Politiker spielt eine Rolle, in der sich alle (oder zumindest die meisten) gesellschaftlichen Gruppen wiederfinden können. Dieses Ziel erreicht er in einer hoch individualisierten Gesellschaft aber nicht mehr wie früher durch einen klaren eigenen Standpunkt und eine politische Agenda. Er ist nun die Projektionsfläche für das Ego seiner Wähler und nimmt daher jene Haltung ein, in die möglichst viele Menschen möglichst viel hineininterpretieren können und sich dadurch aufgehoben fühlen. Diese Haltung ist zwar äußerlich ähnlich der eines mittelalterlichen Königs – nur dass an die Stelle des „Königtums von Gottes Gnaden“ nun die Spiegelung der öffentlichen Meinung tritt.

„Die Öffentlichkeit anziehen“ heißt, die öffentliche Meinung zu wiederholen und politisch auszufüllen. Die Medien haben mit diesem Politikstil durchaus ihre Probleme, ergibt sich dadurch doch ein gewisser „Rückkopplungseffekt“. Der Politiker sagt ja nichts eigenes, sondern wiederholt nur bereits Gesagtes. Doch er hat damit Erfolg, weil für seine Gegner sämtliche Angriffsflächen verschwinden. Kommt Ihnen das bekannt vor?

Genau – das war bis vor kurzem der Politikstil Angela Merkels.

Marshall McLuhan hat ihn bereits in den 1960er Jahren erfolgreich ausprobiert. Bei jeder Rede passte er sich perfekt dem Publikum an und wenn er merkte, dass seine Thesen nicht ankamen, schwenkte er um und behauptete das Gegenteil. Das funktioniert allerdings nur dann, wenn der Politiker hinter den Kulissen weiterhin Machiavellis Politikverständnis folgt. Die „Rolle“ ist das Mittel für den Umgang mit der Öffentlichkeit, der „Manager“ ist das Mittel für die konkrete Umsetzung der Politik mit allen Machtmitteln.

Wieso nun kann die AfD in letzter Zeit die Politikszene derart aufmischen? Das liegt an zwei Faktoren:

1. Angela Merkel hat in der Flüchtlingskrise zum ersten Mal einen eigenen Standpunkt erkennen lassen.

Sie hat damit aufgehört „die Öffentlichkeit anzuziehen“ und begonnen, eine eigene Agenda zu formulieren. Die postmoderne Gesellschaft hat sie dafür auf der Stelle abgestraft, denn sie will keine Politiker mit eigener Meinung.

2. Die AfD wiederum ist die Partei jener Menschen, die nichts anderes als die eigene Meinung in der Öffentlichkeit repräsentiert sehen wollen.

Sie füllt das Vakuum, das der Wechsel in Merkels Politikstil verursacht hat und ist dadurch erfolgreich. AfD-Politiker versuchen ihr Bestes, um Merkels verlorenen Erfolgsstil zu imitieren: Sie wiederholen die Aussagen ihrer Klientel und bei zu viel Widerstand in der Öffentlichkeit dementieren sie die Aussagen sofort wieder. Sie nehmen die Themen der Öffentlichkeit auf anstatt selbst Agenden zu setzen. Allerdings hat die Partei noch große Probleme damit, die nicht-öffentliche Seite des modernen Politikstils mit fähigen Managern zu füllen. Darum ist sie (noch) instabil und wenig schlagkräftig.

Welches Medien-Rezept taugt am Besten gegen die AfD?

Kurz gesagt: Eine Rückkehr zur „Merkel-Raute“. Die Politik sollte verstehen, dass sie die AfD mit „klarer Kante“ und „deutlichen Standpunkten“ nur stärkt. Vielmehr müssen die etablierten Parteien die Themen der AfD besetzen und medial neu präsentieren. Die CSU macht das meiner Ansicht nach schon recht gut. Sorgen wegen eines „Rechtsrucks“ braucht man dabei keine zu haben. Es geht schließlich nur um das mediale Außenbild der Parteien. Das tatsächliche politische Handeln folgt dann wieder ganz anderen Gesetzen. Und man sollte die Zeit ausnutzen, in der die AfD zu diesem rationalen Handeln noch nicht fähig ist.